Loading

Impulse für eine breitere Beteiligung vor Ort

In den letzten Jahren wurde in Deutschland viel unternommen, um Bürgerbeteiligung jenseits repräsentativ-demokratischer Partizipationsformen wie der Wahlteilnahme zu stärken. Neue Formate wie z. B. Bürgerräte und Zukunftswerkstätten wurden ausprobiert, und verschiedene Akteure aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft beschäftigen sich mit der Frage, wie eine stärkere gestalterische Einbindung von Bürger*innen etwa in Kommunen aussehen kann.

Es  stellt sich die Frage, wie Beteiligung einen wirklichen Beitrag zu mehr Mitsprache für möglichst viele leisten und so auch das Vertrauen in die Politik bzw. die eigene Rolle darin stärken kann, ein wichtiges Thema der Partizipationsforschung. 

Das Impulspapier „Mehr Erreichen“ von More In Common greift die Problemstellung auf und entwickelt auf Grundlage der More in Common-Forschungsdaten aus den Jahren 2019 bis 2022 Thesen dazu, wie und warum Menschen ganz unterschiedlich für Beteiligung erreichbar sind. 

Diese Überlegungen sind zentral, um über die Auswahl der richtigen Beteiligungsintensitäten, -formate, -ansprachen und -orte nicht nur die üblichen Verdächtigen, sondern Menschen aus verschiedenen Werte- und Lebenswelten für ein gemeinsames Mitreden gewinnen zu können. 

Dreiteilung der Gesellschaft

aus der Studie „Die andere deutsche Teilung“ 
(More in Common, 2019)

Aus der Dynamik sechs verschiedener gesellschaftlicher Typen untereinander ergibt sich ein Kernbefund einer derzeitigen Dreiteilung der Gesellschaft, die quer zu bis dato diskutierten Trennlinien in der Bevölkerung verläuft:

Die gesellschaftlichen Stabilisatoren, bestehend aus den Etablierten und den Involvierten (insgesamt 34 Prozent). Sie zeichnen sich insbesondere durch große Zufriedenheit, starke gesellschaftliche Einbindung und stabile Vertrauensbezüge aus.

Die gesellschaftlichen Pole, bestehend aus den Offenen und den Wütenden (insgesamt 35 Prozent). Sie bilden die Extreme des gesellschaftlichen Diskurses und sind mit ihren Positionen öffentlich überdurchschnittlich präsent.

Das unsichtbare Drittel, bestehend aus den Enttäuschten und den Pragmatischen (insgesamt 30 Prozent). Sie sind sowohl menschlich als auch politisch wesentlich schlechter eingebunden und legen ein hohes Maß an gesellschaftlicher Desorientierung an den Tag. Auf diese Weise fliegen sie „unter dem Radar“ der öffentlichen Aufmerksamkeit. In ihren Reihen finden sich viele Jüngere und auch Menschen mit Migrationshintergrund.

Gerade das unsichtbare Drittel fühlt sich nicht gehört und gesehen, ist entweder politisch unzufrieden oder hat erst gar keinen richtigen Bezug zum politischen System – und wird dennoch oder deshalb nicht aktiv.

Doch wenn genau diese Menschen sich nicht beteiligen und ihre Stimme keinen Eingang ins politische Geschehen findet, können sich in der Folge das ohnehin starke Misstrauen gegenüber der Politik und die gesellschaftlichen Zerwürfnisse weiter verschärfen. Von daher ist die Frage zentral, wie man diese gesellschaftlichen Gruppen mit neuen Beteiligungsformaten oder zumindest mit Orientierung stiftenden Informationsangeboten erreichen kann.

These:
Drauflosreden ist nicht für alle Gold. Beteiligung vor Ort braucht den richtigen, d. h. einen breit anschlussfähigen Modus.

Es gibt Bevölkerungsgruppen, denen es Spaß macht, mit ihren Mitmenschen zu diskutieren und in den Austausch zu gehen. Sie haben das Bedürfnis und das Selbstbewusstsein, ihre Sichtweise in kontroverse Debatten einzubringen. Deshalb freuen sie sich über Einladungen zu Diskussionsveranstaltungen und anderen stark deliberativ gefärbten Beteiligungsformaten. 

Doch auf das unsichtbare Drittel in der Bevölkerung trifft das eher selten zu. 53 Prozent der Pragmatischen und 61 Prozent der Enttäuschten geben an, so gut wie möglich Diskussionen mit anderen Menschen aus dem Weg zu gehen. Zum Vergleich: Bei den häufiger gelassen-selbstbewussten Etablierten sind es nur 36 Prozent, während 64 Prozent von ihnen gerne die Gelegenheit zum Meinungsaustausch ergreifen.

Das heißt: Viele Menschen, gerade aus dem unsichtbaren Drittel, werden sich auf absehbare Zeit wohl nicht aus eigenem Antrieb zu vielen der existierenden Beteiligungsangebote bewegen – trotz aller gefühlten Mitsprache- und Repräsentationsdefizite. Ihnen fehlen hierzu wechselweise das Grundvertrauen, die Gewohnheit, die empfundene politische Handlungsmacht oder das diskursive Interesse bzw. Selbstvertrauen. Sollen Beteiligungsangebote Menschen breiter und in größerer Zahl erreichen, wird es für die beteiligten Akteure darauf ankommen, die eigene Angebotspalette entsprechend zu überdenken.

 

Fazit:
Bürger*innenbeteiligung aus der Perspektive der Menschen denken!

5 Fragen für inklusivere Beteiligung

aus dem Impulspapier „Mehr Erreichen“ (More in Common, 2023)

Diese Leitfragen können dabei helfen, über die Auswahl der richtigen Beteiligungsintensitäten, -formate, -ansprachen und -orte nicht nur die üblichen Verdächtigen, sondern Menschen aus verschiedenen Werte- und Lebenswelten für ein gemeinsames Mitreden zu gewinnen:

Greifen wir in unserer Einladung die Werte und Wahrnehmungen unserer Zielgruppen auf – oder vor allem unsere eigenen? Haben wir uns ausreichend mit der Gesellschaftswahrnehmung etwa der Enttäuschten beschäftigt (gefühlte Ohnmacht, Misstrauen) bevor wir an sie das Wort richten? 

Denken wir zum Beispiel über Losverfahren oder ähnliche Prozesse nach, bei denen die Teilnehmenden per Zufall ausgewählt werden (und stellen wir über die richtigen Anreize sicher, dass die einmal Ausgewählten auch wirklich teilnehmen)? 

Betreiben wir ein Mindestmaß an „aufsuchender“ Beteiligung (z. B. an nicht-selektiven Alltagsorten, an denen sich Menschen ohnehin aufhalten)?

Machen wir in unserer Werbung für breite Bevölkerungsgruppen bereits ausreichend deutlich, dass es vor allem um die Arbeit an gemeinsamen Interessen oder alltagsrelevanten Themen geht – und nicht in erster Linie um die Freude an Debatte und aktivistischer Selbstwirksamkeit? 

Ist es bei unserem Format auch in Ordnung, einfach nur zuzuhören – zum Beispiel aus sicherer Distanz, etwa vom Rand des Marktplatzes oder per Videoübertragung?

Die Fragen im Detail finden Sie als Download zum Impulspapier.

Die Fragen im Detail finden Sie als Download zum Impulspapier.

Die Fragen im Detail finden Sie als Download zum Impulspapier.

Organisatoren von Beteiligungsformaten können auf ein breit geteiltes Verständnis in der Bevölkerung bauen, dass Ansichten der Bürgerschaft stärker als bislang Eingang in das politische System finden sollten. Aber gerade den Menschen, die sich derzeit von der Politik nicht angesprochen, gesehen und gehört fühlen, fehlt häufig das Selbstbewusstsein und Grundvertrauen – oder schlicht der Bezug zum politischen System –, um bei den oft anspruchsvollen Beteiligungsangeboten tatsächlich mitzumachen. Die Wahrnehmung fehlender politischer Teilhabe führt eben nicht automatisch zu einem klar umrissenen Beteiligungsdrang.

In der Folge erfüllt Bürgerbeteiligung aktuell häufig (noch) nicht die Erwartungen, die an sie gerichtet werden. Mehr noch: Die einseitige Beteiligung bestimmter, häufig ressourcen- oder diskursstarker Menschen kann zu einer Verschärfung von Schief- lagen und wachsendem Misstrauen bei denen führen, die auch sonst in Politik und Gesellschaft weniger gesehen werden.

Will man mit Beteiligung möglichst viele Menschen erreichen, muss man deren Perspektive auf Politik und Gesellschaft verstehen: Je nachdem, ob diese von Zufriedenheit und Vertrauen oder von Distanz, Unzufriedenheit und Ohnmachtsgefühlen geprägt ist, sollten die Einladung zu und Durchführung von Beteiligung systematisch durchdacht werden. Hierzu braucht es neue Ideen sowie den Raum zum Ausprobieren und Lernen an gelungenen und gescheiterten Beispielen.

 

Mehr zum Impulspapier „Mehr Erreichen“ Das vollständige Impulspapier von More In Common mit weiteren Thesen und den Leitfragen gibt es hier:

Newsletter

Sie wollen über weitere Ergebnisse aus dem Programm informiert bleiben? Dann melden Sie sich an zu unserem „Mehr Erreichen“ Newsletter:

Back To Top